Neue politische Immigration aus Russland

Die Zwanderung aus Russland nimmt zu. Daria Skibo analysiert die Beweggründe der Zuwanderer­*innen, ihre sozialen und beruflichen Hindergründe und die genutzten Einwanderungkanäle

Summary

Der Druck der russischen Regierung auf die Zivilgesellschaft steigt. In Folge wandern viele russische Staatsbürger*innen in die Europäische Union und insbesondere nach Deutschland aus. Wir erwarten eine Zunahme dieses Trends. In den letzten drei Jahren lag die Zahl der Asylanträge russischer Staatsbürger*innen in der EU zwar bei nur jährlich 15.000. Jedoch können vorhandene Statistiken nicht das tatsächliche Ausmaß der russischen Immigration abbilden, da die meisten russischen Migranten unübliche Wege der Migration nutzen. Viele kommen zum Studieren oder Arbeiten nach Deutschland mit der Absicht, später einen unbefristeten Aufenthaltsstatus zu erlangen. Obwohl die Migrationszahlen in absehbarer Zeit ansteigen werden, fehlt der EU eine Strategie im Umgang mit diesen Entwicklungen.

Die Auswanderung russischer Staatsbürger*innen ist vor dem Hintergrund der innenpolitischen Situation in Russland zu betrachten. Gegenwärtig unterscheiden Migrationsforscher drei Typen von politisch motivierter Migration: 1) Geflüchtete und Asylsuchende; 2) Politische Migrant*innen und 3) Atmosphärische Migrant*innen.

Zum ersten Typ gehören Menschen, die aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe, Religionsgemeinschaft oder sozialen Gruppe akute Gefahr droht und deswegen nach Russland nicht zurückkehren können. Davon sind vor allem Geflüchtete aus dem Nordkaukasus, LGBTIQ+ oder religiös und politisch verfolgte Menschen betroffen.

Zu dem zweiten Typ gehören Menschen, die von politisch-motivierten Gerichtsverfahren, Polizeigewalt und Androhungen betroffen sind oder die politische Verfolgung nach Erfahrungsberichten von Menschen in ihrem Umfeld erwarten. Diese Gruppe hat das Recht Asyl in Deutschland zu beantragen, wählt jedoch meist andere Wege der Migration wie Arbeits- oder Bildungsangebote, Sprachkurse, Forschungsangebote, Stipendien oder Praktika. Politische Migranten sind hoch gebildet und sprechen Englisch. Viele von ihnen besitzen ein umfassendes soziales Netzwerk, welches meist über russische Grenzen hinaus reicht und eine zusätzliche Bedrohung für sie in Russland darstellt.

Atmosphärische Migrant*innen, die wahrscheinlich größte Gruppe politisch motivierter Migration aus Russland, sind ein recht neues Phänomen, welches aufmerksam beobachtet werden sollte. Wir erwarten insbesondere in dieser Gruppe einen Anstieg der Zahlen. Diese Menschen werden nicht politisch verfolgt und stehen auch nicht unter Druck. Ihre Migrationsentscheidung ist viel mehr von Gefühlslagen wie Hoffnungslosigkeit, Apathie und Unzufriedenheit beeinflusst. Die Ursachen für diese Emotionen sind divers: Verschlechterung der Gesamtsituation in Russland, zunehmende Entfremdung Russlands vom Westen, Abwesenheit von einem freien und konkurrenzfähigen Markt funktionierenden Rechtswesens, ein unfreies Pressewesen, Repressionen gegen die Zivilgesellschaft, Einschränkungen in der Meinungsfreiheit, mangelnde politische Partizipationsmöglichkeiten oder Mangel an professionellen und sozio-ökonomischen Aufstiegschancen. Atmosphärische Migranten gehören zur russischen Mittelschicht. Sie sind gebildet, verdienen gut und beherrschen mehrere Sprachen. Sie sind davon überzeugt, dass sich in der näheren Zukunft in Russland nichts ändern wird und entschließen sich deswegen für ein Leben im Ausland. Trotz dessen, dass das politische System die Beweggründe für ihre Auswanderung hervorruft, sehen atmosphärische Migrant*innen ihre Migrationsentscheidung nicht von politischen Entwicklungen beeinflusst.

Die unterschiedlichen Wege, die Menschen politisch-motivierter Migration wählen, um nach Deutschland einzuwandern, erschweren es diese Form der Migration zurückzuverfolgen. Es fehlt eine schlüssige Methodologie zur Schätzung vergangener und zukünftiger Migrationsbewegungen. Außerdem geben die bisher verfügbaren Statistiken keine Auskünfte über soziale und demographische Aspekte. 

Insofern ist eine umfassende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit politisch motivierter Migration aus Russland notwendig. Ohne eine vollständige Datenlage ist es schwierig politische Handlungsempfehlungen auszuarbeiten. Darüber hinaus erschweren die mangelhaften Statistiken die Wahrnehmung der Vorteile, die mit der Ankunft von hochgebildeten und politisch aktiven Menschen einhergehen. In Anbetracht dieser Entwicklungen haben wir folgende Handlungsempfehlungen entwickelt:

  1. Durchführung quantitativer und qualitativer Studien zu politischen Migrant*innen aus Russland, um einen holistischen Überblick über deren sozio-ökonomischen und demographischen Hintergründe, politischen Anschauungen, Werte, Erwartungen und Integrationsmöglichkeiten im Ankunftsland zu erlangen
  2. Unterstützung (rechtlich und finanziell) deutscher NGOs, die Russische Migrant*innen bei der Niederlassung, Arbeitssuche und Weiterbildung in Deutschland helfen
  3. Verbesserung der Effizienz bereits existierender staatlicher Institutionen in ihrer Arbeit mit politisch motivierter Migration aus Russland und die Entwicklung von Dienstleistungen, die für die Verbreitung von Informationen zur Rechtslage, der deutschen Gesetzgebung und dem deutschen Arbeitsmarkt zuständig sind
  4. Evakuierung der Mitarbeiter von NGos oder Partnerorganisationen aus Russland bei Eintritt einer fundamentalen politischen Krise
  5. Weiterbildungsangebote zur innenpolitischen Situation in Russland für Beamte in Migrationsbehörden
  6. Angesichts der derzeitigen Situation empfehlen wir die Vergabe von Asyl aus humanitären Gründen
  7. Einbeziehung von Vertretern der politischen Migration in der Bekämpfung von Kremlpropaganda in der EU durch die Unterstützung von diversen Bürgerinitiativen von Russen innerhalb Deutschlands, welche sich insbesondere auf die innenpolitischen Entwicklungen in Politik und Gesellschaft und demokratische Werte konzentrieren.

Die Umsetzung dieser Handlungsempfehlungen trägt zur Unterstützung und Integration politischer Migranten aus Russland bei und ermöglicht ihnen ihre politischen Aktivitäten aus dem Ausland weiterzuführen. Zugleich wird auch die schon bestehende Russische Diaspora in Deutschland durch die Neuankömmlinge bereichert, indem sie zur Verbreitung demokratischer Werte beitragen und zu sozialem Engagement animieren. Politische Migranten sind ferner wichtige Akteure für die Entwicklung einer funktionierenden Demokratie und Zivilgesellschaft in Russland, sobald das politische System kollabiert.

 

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